Freitag, 12. Juni 2020

Sind doch bloß Haare

Wenn einer gesunden, jungen, gut aussehenden Frau die Haare ausgehen, und sei es nur ganz kurzfristig wegen einer verpfuschten Färbung, dann geht ein Aufschrei durch die Nation, bis hin zu Berichten in Boulevardmagazinen wo jene Frau unter Tränen von dieser hoch traumatisierenden Geschichte erzählt. Oder denken wir allein an die Zeit, als die Friseurläden geschlossen hatten und Promi-Damen-Haargeschichten ganz oben auf der Interessenliste von Social Media standen. Wenn Du aber krank bist und Deine Haare verlierst, dann darfst Du Dich nicht beschweren, denn schließlich sind es NUR Haare...

Dafür kannst du atmen!


Mein Lieblingsspruch, der immer kommt, egal bei welchen Einschränkungen: "Dafür kannst Du atmen". Natürlich kommt auch gerne ein belehrender "sei nicht undankbar"-Satz und der Hinweis, dass es wohl wichtigeres gibt als Haare. Ganz ehrlich, wenn das jemand weiß, dann gehöre ich ganz sicher dazu und natürlich zählt atmen können wesentlich mehr als Haare zu haben. Aber beides zusammen ist auch ganz schön. Und der gesunden Frau würde doch niemals jemand sagen: "Ach komm, du hast einen tollen Job, den Traummann an Deiner Seite, ihr habt zwei bezaubernde Kinder und vor allem.. Du bist gesund. Also sch... auf die Haare."

Hat mich mehr getroffen als gedacht


Mein Transplantationsweg ist ja von Anfang an gepflastert mit kleineren und größeren Problemen, was nicht nur an der Transplantation liegt, sondern auch an den schweren Jahren davor. Da sind zum Beispiel die ständigen Schmerzen, die Probleme mit Muskeln, Nerven und Knochen die mich stark einschränken und auch die Nieren sind immer wieder ein Grund zur Sorge. Aber als dann auch noch der massive Haarausfall begann, war das trotzdem furchtbar. Ich konnte mir einfach locker in die Haare fassen und hatte sie auch schon in der Hand. Haare bürsten wurde ein furchtbarer Moment im Tagesablauf und in der schlimmsten Phase war Haare waschen der Horror. Um all diese Gefühlslagen zu beschreiben, müsste dieser Post wahrscheinlich fünf mal so lang sein, so hört sich das alles ziemlich oberflächlich an. Dazu kann ich sagen, dass ich nie besonders eitel war, mein Aussehen hat mir nun noch nie einträgliche Modelverträge eingebracht und ich war auch nicht experimentierfreudig mit meinen Haaren. Und ich hätte mir vorher wahrscheinlich auch nicht vorstellen können, dass mich Haarverlust so tief treffen würde. Aber fürs eigene Wohlbefinden war es einfach schlimm. Das ist jetzt etwas peinlich, aber in der schlimmsten Zeit, wo die Haare, wenn sie nass waren, nicht mehr zu fühlen/spüren waren, musste meine Mutter mir eine Zeit lang den Kopf waschen, weil ich es nicht ertragen konnte, ihn anzufassen. Es hat nach aussen sehr lange gedauert, bis es sichtbar wurde, da ich immer schon viele und sehr dicke Haare habe (hatte). Aber irgendwann waren die Lücken kaum noch zu kaschieren und ich machte mir die ersten Gedanken über eine Perücke. Enttäuscht war ich, wie alleine "frau" damit gelassen wird. Dabei bin ich doch nicht die einzige Transplantierte der das so geht. Trotzdem wird darüber wenig gesprochen.

Wenn alle Dämme brechen


In dem Zusammenhang möchte ich noch einen sehr persönlichen Moment mit Euch teilen. In dieser fast-Glatzen-Zeit kam ich einen Abend aus der Dusche, sah mich im Spiegel und bin so dermaßen in Tränen ausgebrochen, dass ich es nicht mit Worten beschreiben kann. Das waren nicht nur die fehlenden Haare, auch dieser geschundene Körper, in dem Moment war das alles zu viel. Und ganz ehrlich, da ging es natürlich nicht um das optische. All diese Zeichen an meinem Körper standen (und stehen) für all das was ich in den Wochen und Monaten (Jahren...) durchgemacht hatte. Ich kann ja nur für mich schreiben, aber viele werden das kennen. In der Zeit, in der es mir extrem schlecht ging, hatte ich weder Zeit, Energie und schon gar keine Luft um mich zu bemitleiden oder zu heulen. Direkt nach der Transplantation war es auch nur ein fokussiert sein auf den Moment, an mir Arbeiten, um wieder fit zu werden, mich an die neue Situation, den neuen Tagesablauf zu gewöhnen. Aktuelle Probleme bewerten und in den Griff bekommen, und so weiter. Dazwischen dann all die euphorischen Momente des atmen könnens, spazieren gehen, kleine Alltagsdinge neu zu entdecken. Bei all dem war keine Zeit zum traurig sein und weinen. Aber an diesem Abend sind dann einfach alle Dämme gebrochen, da musste all dieser Druck, all die traurigen und schlimmen Dinge einfach raus  - und das war wahrscheinlich das Beste was mir passieren konnte. 

Nachdem sich das alles jetzt mal wieder so traurig anhört, sei dazu gesagt, dass ich natürlich nicht 24/7 traurig war wegen der Haare. Genauso gab es die Phasen, wo ich mich damit abgefunden hatte und es war nun mal wie es war. Außerdem fand ich es auch spannend, dann vielleicht mal andere Frisuren und Farben zu probieren (eben als Perücke). Ich hatte auch immer mal wieder überlegt, ob es nicht besser wäre sie jetzt abzurasieren, als wochenlang zu leiden, wenn ich mir die Haare kämme. Aber dazu konnte ich mich dann doch nicht überwinden.

Warum ich wieder Haare habe


Zu einer richtigen Perücke ist es im letzten Moment tatsächlich nicht gekommen. Etwa 18 Monate lang bekam ich nur die Hälfte der eigentlichen Dosis eines der Transplantationsmedikamentes (selbstverständlich nicht wegen der Haare) und nach einiger Zeit wuchsen mir wirklich neue Haare. Diese Hoffnung hatte ich schon fast aufgegeben und es war einfach soooo schön zu sehen. Es gab Momente, da hätte ich mir einfach stundenlang in die Haare fassen können, weil da endlich wieder was zum Anfassen war. Als wir dann allerdings zur Normaldosis zurück sind, fingen sie genauso schnell wieder an auszugehen. Bei einem Ambulanztermin hatte ich eine sehr nette Ärztin, die zwar auch erst meinte: "Na wenn ihnen Haare soooo wichtig sind..", aber dann schon verstanden hat, dass mir meine Lunge selbstverständlich über alles geht. Nie würde ich die Lunge für Haare aufs Spiel setzten, auf gar keinen Fall. Aber da meine Nieren die volle Dosis auch nicht so prall fanden, haben wir nun eine Dosierung gefunden mit der sowohl Lunge, als auch Nieren leben können - und als Bonus oben drauf auch meine Haare :-). Neulich musste ich sie zum ersten Mal seit fast sieben (SIEBEN!) Jahren schneiden lassen, weil sie zu lang wurden... Wahnsinn!

Warum gerade jetzt dieses Thema?


Dem ein oder anderen mag das Thema vielleicht bekannt vorkommen, weil ich schon einmal etwas darüber geschrieben habe (Super-Grobi beim Friseur). Das hier ist also fast so etwas wie eine Fortsetzung. Inspiriert dazu hat mich eine andere transplantierte Muko-Patientin. Wer Instagram hat, schaut bitte unbedingt mal bei  Pinguinkuh vorbei. Ich kenne sie gar nicht persönlich, aber sie war die erste der ich auf Instagram gefolgt bin, weil mich so vieles an mich erinnert hat. Jetzt lese ich einfach unglaublich gern was und wie sie schreibt und es ist Wahnsinn wie sie kämpft. Nach einem Traum-Transplanationsverlauf (wenn es das überhaupt gibt), kämpft sie nun leider auch noch gegen Krebs. Und um zurück auf's Thema zu kommen: Nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo sie sich von ihren Haaren verabschiedet. Sie hat sich noch einen Wunsch erfüllt und ihre Haare gefärbt, was sie sich vorher nie getraut hat. Eine schöne Art Abschied zu nehmen. Falls Du das lesen solltest Sarah, wir denken an Dich und drücken Dir ganz fest die Daumen das Du dem Krebs in den Hintern trittst, denn #pinguinefressenkrebstiere :-)

Passt auf Euch auf
Miriam

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