Das Buch "Arbeit und Sturktur" von Wolfgang Herrndorf lag (ehrlich gesagt) schon ein paar Jahre bei mir rum. Ich hatte es mir gekauft, nachdem ich "Tschick" gelesen hatte. Mir gefiel die Art und Weise wie Herrndorf die Geschichte von Maik und Tschick erzählt, seine Art von Humor und sein Blick auf die Welt. Deshalb wollte ich gerne noch mehr von ihm lesen. Allerdings wusste ich auch, dass er aufgrund eines Hirntumors Selbstmord begangen hat. Und da es sich bei "Arbeit und Struktur" quasi um ein Tagebuch seiner letzten beiden Jahre handelt, habe ich das Lesen ein wenig vor mich hergeschoben.
Zuerst als Blog
Nachdem Wolfgang Herrndorf die Diagnose Hirntumor bekam und der erste Schock inklusive manischen Phasen und Aufenthalt in der Psychartrie hinter ihm lag, begann er einen Blog über sich, seinen Zustand und was ihm sonst noch so passierte/interessierte zu schreiben. Dieser Blog war für seine Familie und Freunde gedacht - damit nicht jede/jeder täglich bei ihm anruft und fragt wie es ihm geht.
Mit der Zeit fand der Blog aber immer mehr LeserInnen und es entstand die Idee daraus (nach seinem Tod) ein Buch zu machen. Zwei seiner Freunde haben dies (nach seinen Vorgaben) gemacht.
Herausgekommen ist ein lesenwertes Buch, was viele Gedankengänge, Ideen (schräg und nicht ganz so schräg), seine Arbeitswut und seine Verzweiflung zeigt.
Diagnose Hirntumor
Jede/Jeder kann sich vorstellen, dass die Diagnose Hirntumor einer/einem den Boden unter den Füssen wegzieht. Das Leben ist auf einmal sehr begrenzt und es bleibt nur noch wenig Zeit. Vieles wird dann unwichtig - und manches um so wichtiger.
Ich fand es toll, wie offen Herrndorf über seine Gedanken und Gefühle gesprochen hat. Nach der Diagnose wollte er endlich einen erfolgreichen Roman schreiben - was ihm mit "Tschick" tatsächlich gelang. Vorher konnte er wohl endlos an Formulierungen basteln und sich in Recherche vertiefen. Nun hatte er ein begrenztes Zeitkontingent und musste Entscheidungen treffen ohne tagelang das Für und Wider abzuwägen. (Es gibt im Buch sogar ein zusätzliches Kapitel von "Tschick".)
Eines seiner wichtigsten Ziele in dieser Zeit war aber, zu klären, wie er sich selbst umbringen konnte. Er wusste wie ein Hirntumor mit der Zeit sein Gehirn und damit sein Denken, Reden und auch seine Beweglichkeit beeinträchtigen wird. Zu wissen, dass er als Autor irgendwann keinen Wortschatz bzw. keine Möglichkeiten der Artikulation mehr hat, dass er mit starken Schmerzen auf den Tod warten müsste - dies wollte Herrndorf auf gar keinen Fall. Er hat es schließlich mit einem Revolver getan und im Nachtrag zum Buch steht, dass es wohl der letzte Tag war, an dem er es tatsächlich hätte machen können.
Viele verschiedene Themen
In "Arbeit und Struktur" werden sehr viele verschiedene Themen angesprochen. Zum Beispiel gibt es Einblicke in manische Phasen (inklusive manisches Denken und die Lösung aller Weltprobleme) - die ich so auch noch nie gelesen hatte und deshalb sehr spannend fand.
Auch die Beschreibungen von seinen Krankenhausbesuchen bzw. den Untersuchungen fand ich sehr treffend. Wahrscheinlich sehen Krankenhäuser überall doch irgendwie gleich aus....
Besonders schön war für mich, dass er noch ein paar Mal in den Urlaub gefahren ist. Es ging an die Ostsee und auch nach Marokko (ein Land dass er sehr liebte). Dies alles immer in dem Wissen, hier nicht nochmal herkommen zu können. Das hat mich sehr an meinen letzten Spanien-Urlaub vor ca. 13 Jahren erinnert... ich merkte damals dass es mir nicht mehr ganz so gut ging. Mir war klar, dass in nicht allzuferner Zeit zusätzlicher Sauerstoff mein Begleiter werden würde. Und ich war mir nicht so sicher, wie die Zukunft für mich aussehen würde - ich wusste nur, dass ich an der andalusischen Küste wohl so bald nicht wieder stehen würde.
Auch zieht Herrndorf noch einmal um, da er sich durch den Erfolg von "Tschick" endlich eine besere und größere Wohnung leisten kann. Am Ende lebt er in einer schönen Wohnung mit Dachterrasse und genießt den täglichen Blick über Berlin. Auch dies kommt mir auf eine bestimmte Art bekannt vor. Wir haben zwar keine Dachterrasse und leben nicht in Berlin... aber wir haben einen Balkon zu einem sehr netten und grünen Innenhof. In den Jahren auf der Warteliste war dies für mich ein so wichtiger Ort (mehr im Sommer als im Winter), wo ich zur Ruhe kommen und einfach den Moment geniessen konnte.
Das Buch zeigt leider sehr gut, wie der Tumor sein Denken und Schreiben immer mehr einschränkt. Am Anfang gibt es noch lange Kapitel, oft schrieb er mehrmals am Tag Einträge. Mit der Zeit werden die Einträge kürzer und dann auch seltener. Die letzten Einträge konnte er nur noch mit Hilfe eingeben. Auch auf diese Weise wird im Buch klar, wie sehr der Tumor ihn einschränkte.
Alles in allem hat mir dieses Buch sehr gefallen und wenn das Ende nicht abschreckt, empfehle ich ruhig mal reinzulesen. Herrndorf hat einen guten Blick auf sich selbst und geht auch mit viel Humor an die Sache ran.
Insa
P.S.
Wolfgang Herrndorf schrieb einen Beitrag, der aus einer Aufzählung von Kindheitserinnerungen bestand. Das fand ich eine total schöne Idee. Ich habe deshalb überlegt, wie meine Liste wohl aussehen könnte... dies ist das Ergebnis:
Wie ich im Sommer mit dem Gartenschlauch einen Regenbogen mache.
Das Dolomiti-Eis vom Bäcker.
Der Geruch von Sonnencreme, Kaffee, Meer und Sonne am Strand von Cuxhaven.
Der Geschmack von Salzwasser.
Meine verschrumpelten Hände, weil ich nicht aus dem Wasser raus will.
Die Mohnhörnchen bei Oma und Opa zum Frühstück.
Grillhähnchen und Pommes mit dänischer Majo im Dänemark-Urlaub.
Die zugefrorende Wasserfläche bei unserer Nachbarin im Garten, wo das Dorf Schlittschuh lief.
Wie mein Vater mich im Schlitten durchs Dorf zieht.
Wie wir in Ilkas Küche sitzen und malen.
Wie ich zu Hause Krankenhaus spiele nach den IV's.
Der Kuschelpulli mit den bunten Fransen, den meine Mutter mir gestrickt hat.
Die täglichen Planungen für den Tag während unseres Urlaubs in Davos - dazu gab es Darjeeling-Tee.
Besuch im Zirkus Roncalli und es gibt rosa Zuckerwatte.
...